Wir stehen bei KI nicht an der Spitze eines Hypes, sondern erst am Anfang einer Entwicklung

Reinhard Karger (1961), M.A., studierte theoretische Linguistik und Philosophie in Wuppertal, war Assistent am Lehrstuhl Computerlinguistik der Universität des Saarlandes, wechselte 1993 zum Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, DFKI, in Saarbrücken. Seit 2011 ist er Unternehmenssprecher des DFKI. Reinhard Karger beschäftigt sich seit 35 Jahren mit theoretischer Linguistik und Künstlicher Intelligenz, mit Bewusstseinsphilosophie, mit digitaler Innovationskultur und Wissenschaftsgeschichte.

AG CommTech: Bill Gates hat die Entwicklung der Large Language Models mit Erfindung der Dampfmaschine, der Elektrizität oder des Internets verglichen. Wie blickst Du als Technik-Historiker darauf?

Reinhard Karger: Aktuell ist Chat GPT die populärste KI-Anwendung, dabei steht GPT für Generative Pretrained Transformer, aber diese Auflösung ist jung. GPT ist die – in den USA – gut eingeführte Abkürzung für General Purpose Technology, also Allzwecktechnologie, die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft haben können und Potenzial haben, Gesellschaften durch ihre Auswirkungen auf bereits bestehende wirtschaftliche und soziale Strukturen drastisch zu verändern (vgl. Wikipedia). Genau das sagt Bill Gates, und genau damit hat er recht. Aber KI ist mehr als Test und Training von LLMs, und wir sind nicht auf der Spitze eines Hypes, sondern am Beginn einer KI-unterstützten Entwicklung, die sicherlich nicht ohne gesellschaftliche Risiken ist, aber Chancen eröffnet, dass wir mit Wissen sehr viel mehr erreichen können. Dass Bildung perspektivisch deshalb neue Dimensionen erschließen kann, weil jede Wissensfrage jeder Person zu jeder Zeit fachlich und faktisch belastbar korrekt von einer Maschine beantwortet wird. Wenn jeder schneller schlau sein kann, dann könnten wir einen prosozialen Innovationsgrad erreichen und – um etwas pathetisch zu werden – könnten wir den (multi-)kulturellen Frieden stabilisieren und hoffentlich soziale Gerechtigkeit globalisieren.

AG CommTech: 75% der Kommunikationsverantwortlichen sehen in KI eine Chance zur Verbesserung ihrer Arbeit. Welche Fähigkeiten benötigen wir in der Kommunikation aber vielleicht auch gesellschaftlich für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz?

Reinhard Karger: KI-Systeme klassifizieren, bringen etwas unter einen Begriff. Das ist hilfreich in der Produktion oder der Radiologie, erleichtert die Qualitätssicherung bei der Endkontrolle, macht die Diagnose besser und entlastet Werker oder Ärztinnen. Menschen stehen oft vor der Aufgabe, etwas auf den Begriff bringen zu müssen und nutzen dafür die produktive Einbildungskraft, die Maschinen nicht haben. Aber die Maschine leistet die Auswertung von Massendaten, findet Muster und Anomalien in Millionen von Dokumenten, die Menschen weder einzeln noch als Team analysieren könnten. Maschinen erstellen so eine Basis, die Menschen für die sinngeleitete Ideenkreation nutzen können. Aber wie bei jedem Werkzeug muss man Fertigkeiten erwerben, um es punktgenau einsetzen zu können. Das beginnt mit unaufgeregt chancenorientierter Technologieoffenheit verbunden mit kultursatter und leidenschaftlicher Suche nach den jeweils besseren Lösungen. Dafür brauchen wir nicht übergriffige Regulierung, aber gut begründete Regeln, nicht Marketing-getriebenenen Aktionismus, sondern perspektivisch und zielorientierte Anwendung. Nicht Opportunismus, sondern den Sinn für Opportunitäten. Nicht Hast und Hetze, sondern Informationskompetenz und Exzellenz. Aus meiner Perspektive ist KI eine neue Kulturtechnik und KI-Alphabetisierung – autodidaktisch oder organisiert – sollte ein persönliches und gesellschaftliches Anliegen sein.

AG CommTech: Was müssen Kommunikationsverantwortliche heute tun, um den vollen Nutzen aus KI zu ziehen? Gibt es den Shortcut zu KI Deiner Meinung nach?

Reinhard Karger: Der Shortcut, der den Nutzen von KI für Unternehmen und erst recht für Kommunikationsverantwortliche erschließt, ist Digitalisierung. Ich hoffe, das ist nicht zu ernüchternd. KI-Lösungen sind wie die Pedale eines Fahrrads. Ohne kann man rollen, mit kann man radeln, aber Digitalisierung ist wie die Fahrradkette. Nun, es geht ja um die Aussichten für Kommunikatorinnen und Kommunikatoren und die sind überaus ermunternd. Sämtliche Gestaltungswerkzeuge werden ergebnisreicher: treffendere Texte, bessere Bilder und Grafiken, eleganteres und passgenaueres Management der Ausspielkanäle und des Kundenbeziehungsmanagements, Community Building wird dynamisiert, Corporate Voices bezahlbar, Animationen preiswerter, maschinelle Textübersetzung ist ein Segen für die interne und externe Unternehmenskommunikation. Das konkrete Anwendungsportfolio ist reichhaltig. Und es ist nicht von Nachteil, dass viele Anwendungen gratis sind. Interesse hilft. Ausprobieren ist erhellend, und nichts ersetzt die eigene Erfahrung.

AG CommTech: Welches sind die absehbaren Entwicklungsschritte, die wir von den LLMs erwarten dürfen?

Reinhard Karger: In den vergangenen 5 Jahren wuchs die Ergebnisqualität im Gleichschritt mit der Größe des Sprachmodells. Die Skalierungshypothese trägt noch, aber nicht lange. Die Verdoppelung der Parameteranzahl bedeutet keine proportionale Steigerung der Leistungsfähigkeit mehr. Deshalb ist die Arbeit an LLMs nicht weniger sinnvoll, denn die produzierte Sprachlichkeit hat eine verblüffende Qualität. Notwendig sind jetzt aber hybride Ansätze, die die Vorteile der generativen KI verbinden mit der symbolischen KI, die das inhaltliche Verstehen und die deduktive Ableitung aus vorgelagerten oder ersten Prinzipien leisten kann. Diese hybride KI erschließt den Raum der Gründe für die Mensch-Maschine-Interaktion, und wir könnten von der Interaktion in einen tatsächlichen Mensch-Maschine-Diskurs kommen, in dem sich maschinelle Leistungen und menschliche Talente die Hand geben, ohne auf derselben Augenhöhe sein zu müssen. Ziel dieser neuo-symbolischen oder neuro-expliziten Ansätze sind KI-Systeme, die in den Dimensionen Verlässlichkeit, Transparenz und Erklärbarkeit nachvollziehbare Ergebnisse liefern. Aber das sind aktuelle Forschungsthemen und in diesem Moment noch keine Anwendungen.

AG CommTech: Bei aller Technologiebegeisterung, mit der Nutzung von KI entsteht auch die Verantwortung dafür. Der DRPR hat dazu Empfehlungen gegeben. Wie müssen sich Nutzerinnen und Nutzer von KI verhalten, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden?

Reinhard Karger: Ich bin ein großer Freund von Transparenz, Kennzeichnung, Wahrhaftigkeit, Verantwortung. Zentraler Punkt ist die Autorschaft. Wir müssen ein klares Verständnis befördern, dass für eine Nachricht ein Mensch die Verantwortung übernimmt. Vielleicht geht das nicht immer. Falls also eine Echtzeitmeldung veröffentlicht wird, die kein menschliches Auge gesehen hat, dann ist das nicht fatal, aber es sollte visibel und prominent gekennzeichnet sein. Für mich hat das ZDF den wichtigsten Punkt sehr knapp formuliert: „Es gilt das Zwei-Quellen-Prinzip, wobei generative KI selbst nicht als Quelle zählt“. (KI-Grundsätze des ZDF, 23.10.2023)

Denn darauf kommt es an. KI konfrontiert alle Nutzenden mit zwei Ansprüchen: erstens „think twice“ und zweitens „check die Quelle“. Das sieht man in der Wissenschaft seit Jahrhunderten so und deshalb werden wir uns hoffentlich von einer Wissens- zu einer Wissenschaftsgesellschaft entwickeln. Reflektierter, informierter, effizienter und ergebnisreicher, müssen aber fleißig sein. Das ist nicht convenient, aber erkenntnisreich.



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