„Vom Rückspiegel zum Zukunftsradar“ – Jörg Forthmann über modernes Krisenmanagement mit KI

Interview mit Jörg Forthmann, Geschäftsführer des IMWF und Experte für Krisenkommunikation

AG CommTech: Jörg, warum reicht klassisches Krisenmonitoring heute nicht mehr aus?

Jörg Forthmann: Klassisches Monitoring arbeitet mit Suchwörtern. Das Problem: Du erkennst nur Krisen, die Du vorher antizipiert hast. Alerts laufen dann zwar ein, aber in der Praxis liest sie oft niemand gründlich genug. So werden Themen, die sich langsam aufbauen, leicht übersehen. Damit verpasst man wertvolle Zeit, in der man noch ruhig gegensteuern könnte.

AG CommTech: Was ist der nächste Schritt über diese klassische Suche hinaus?

Jörg Forthmann: Ambitionierter wird es, wenn Du Viralität und Tonalität kombinierst. Wenn ein Thema schnell Fahrt aufnimmt und zugleich überwiegend negativ bewertet wird, ist das ein klares Krisensignal. Allerdings: An diesem Punkt hat die Krise bereits Eigendynamik entwickelt. Du erkennst sie, wenn sie schon steil nach oben geht – also immer noch recht spät.

AG CommTech: Du sprichst häufig von „Topic Modeling“. Was genau steckt dahinter?

Jörg Forthmann: Topic Modeling ist eine KI-Anwendung, die in großen Datenmengen automatisch Cluster semantisch ähnlicher Texte bildet. So lassen sich auch unbekannte Krisenthemen identifizieren – also Dinge, die Du nicht mit Suchwörtern auf dem Schirm hattest. In einer Visualisierung siehst Du auf einen Blick, welche Themen latent negativ sind und welche heiß laufen. Das erlaubt Dir, auch bei unscheinbaren Hinweisen frühzeitig genauer hinzuschauen.

AG CommTech: Kannst Du ein Beispiel nennen?

Jörg Forthmann: Ja, wir haben unter anderem Flughäfen analysiert – darunter auch Nürnberg. Dort zeigten sich die Proteste von Klimaschützern im Sommer 2024 sehr deutlich. Interessant war: Während alle Flughäfen negativ betroffen waren, stand Nürnberg im Gesamtbild etwas besser da. Trotzdem gab es auch dort latente Krisenthemen, die für den Pressesprecher wichtig sind, um präventiv vorbereitet zu sein.

AG CommTech: Ihr arbeitet aktuell an einem „Emerging Trend Detector“. Was macht dieses Tool besonders?

Jörg Forthmann: Der Emerging Trend Detector legt täglich ein Topic Modeling über die Daten und zeigt, welche Themen gerade an Dynamik gewinnen. So erkennst Du, welche Entwicklungen sich verstärken, bevor sie groß werden – ob positiv oder negativ. Das ist Gold wert: Bei positiven Trends kannst Du Dich mit „Trendsurfing“ obendrauf setzen, bei negativen Entwicklungen kannst Du früh gegensteuern. Bei völlig überraschenden Ereignissen – den berühmten „schwarzen Schwänen“ – stößt auch dieses Tool an seine Grenzen. Aber in allen anderen Fällen liefert es uns ein unschätzbares Frühwarnsystem.

AG CommTech: Du sprichst auch von „Predictive Intelligence“. Wie unterscheidet sich das vom Monitoring?

Jörg Forthmann: Predictive Intelligence geht einen Schritt weiter. Sie erstellt einen Datenraum, prüft Variablen und berechnet, wie sich Kommunikationsmaßnahmen in der Zukunft auswirken. So kannst Du Krisenreaktionen optimieren, noch bevor sie ausgespielt werden. Besonders spannend: Du kannst die KI mit vergangenen Krisenfällen „füttern“, damit sie ähnliche Situationen besser einschätzt. Im Gegensatz zu generativen KI-Modellen halluziniert sie nicht. Wenn keine Daten da sind, sagt sie: „Es tut mir leid, ich kann nichts prognostizieren.“

AG CommTech: Was bedeutet das konkret für Krisenstäbe in Unternehmen?

Jörg Forthmann: Du kannst Szenarien im Vorfeld simulieren und im Krisenfall faktenbasiert entscheiden. Angenommen, Klimaschützer blockieren einen Flughafen – ein Fall, den wir schon erlebt haben. Mit Predictive Intelligence kannst Du prüfen, welche Kommunikationsstrategie die besten Chancen hat, die Krise zu entschärfen. Damit verlässt Du die Bauchentscheidung und gehst in eine datenbasierte Optimierung.

AG CommTech: Viele Kommunikationsabteilungen arbeiten noch sehr traditionell. Wie realistisch ist es, dass Predictive Intelligence bald Standard wird?

Jörg Forthmann: Sehr realistisch. Wir sehen gerade eine kleine Zeitreise: von simplen Alerting-Tools, die kaum noch mithalten können, über Topic Modeling als State-of-the-Art-Lösung bis hin zur Predictive Intelligence, die in zwei Jahren sicher ein typisches Instrument der Unternehmenskommunikation sein wird. Sie wird es ermöglichen, die Effizienz von Maßnahmen nicht nur rückblickend zu messen, sondern ihre Wirkung vorab zu prognostizieren.

AG CommTech: Dein Fazit für Kommunikationsprofis?

Jörg Forthmann: Verlasse Dich nicht auf den Rückspiegel. Monitoring bleibt wichtig, aber ohne KI-basierte Frühwarnsysteme wirst Du Krisen zu spät erkennen. Nutze Topic Modeling, um Unbekanntes sichtbar zu machen, probiere Emerging Trend Detection für Frühindikatoren – und bereite Dich mit Predictive Intelligence darauf vor, Krisenreaktionen künftig gezielt zu optimieren. Wer das jetzt aufbaut, verschafft sich einen echten Vorsprung im Krisenmanagement.



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